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23.10.2023

Harry Nußbaum berichtet…

Vortrag des NS-Zeitzeugen am Staufer-Gymnasium Pfullendorf

Über Schulleiterin Heidi Linster war der Kontakt zwischen dem Walder Geschichte-Leistungskurs von André Kiefer und Christian Herderich, Lehrer am Staufer-Gymnasium, rasch hergestellt und die wichtige Information übermittelt: NS-Zeitzeuge Harry Nußbaum kommt am 23. Oktober nach Pfullendorf und auch die Walder Mädchen mitsamt ihrem Lehrer dürfen an der Veranstaltung teilnehmen.

Im Untergeschoss der Mensa breitete Harry Nußbaum dann vor den Schüler*innen der Kursstufe 1 sowie Kursstufe 2 der Pfullendorfer Schule, den Walder Besucher*innen und diversen weiteren Beteiligten und Interessierten über rund 90 Minuten seine illustre Lebensgeschichte mit Ruhe und beeindruckendem Detailreichtum aus. Karten und Bilder veranschaulichten immer wieder den Gesprächsgegenstand. Am Ende war das Staunen ob des beeindruckenden Schicksals groß und die Schüler*innen stellten weitere Rückfragen an den mittlerweile 87-Jährigen, welcher noch zum Schluss seine mitgebrachten Buchexemplare liebevoll signiert in die Hände der Jugendlichen gab.

Harry Nußbaums Wurzeln liegen in Ostgalizien, wo der Vater 1897 geboren wurde. Infolge der Zersplitterung Österreich-Ungarns nach dem Ersten Weltkrieg erfolgte der Umzug des Holzhändlers nach Wien, dort dann die Heirat 1923, die Geburt der großen Schwester Harrys 1927 und schließlich die Harrys 1938. Anfang der 1930er Jahre verweilte die jüdische Familie noch für einige Zeit im elsässischen Straßburg, ehe es wieder nach Wien zurückging.

1938/39 kommt es dann zum Bruch: Mit Zunahme der antisemitischen Anfeindungen beschließen die Nußbaums, nach Frankreich umzusiedeln. Erst hält sich die Familie in Paris auf, bald darauf zieht es sie weiter in den Südwesten des Landes, genauer gesagt nach Périgueux. Die Lebensbedingungen sind hart: Durch den Touristen-Status der Familie aufgrund der Tatsache, dass sie ausländische Staatsbürger sind, ist es für den Vater schwierig, Einkommen zu finden; darüber hinaus wird das Essen ab 1938 streng rationiert. Auch als die Familie Anfang der 1940er Jahren ins rund 50 Kilometer entfernte Lisle übersiedelt, um weniger aufzufallen, bleibt die Situation nicht zuletzt politisch gefährlich, denn: Zwar liegt der Südwesten des Landes nicht in der deutschen Besatzungszone, sondern in der sog. freien Zone, diese wird jedoch vom antisemitischen Pétain-Regime, welches mit Hitler-Deutschland kollaboriert, verwaltet.

Im August 1942 wird die Situation für die Familie dann erstmals wirklich prekär: Während einer notwendigen Operation Harrys im Krankenhaus von Périgueux werden die Eltern verhaftet und in einem Arbeitslager interniert; gegen alle seit 1936 nach Frankreich eingewanderten ausländischen Juden gilt nämlich nun ein (deutscher) Regierungsbefehl. Das Glück für die Familie: Sie können die Aufenthaltserlaubnis aus der Straßburger Zeit vorlegen und sich so – anders als einige Verwandte – den Häschern noch einmal entziehen. Als die freie Zone im November 1942 allerdings zur Besatzungszone wird, müssen die Nußbaums abermals umziehen, um ihr Leben zu retten. Sie fliehen im Februar 1943 in die italienische Alpenzone Frankreichs, weil dort Juden nicht verfolgt werden. Ein Zeugnis über einen notwendigen Kuraufenthalt für die Mutter von Harry, ausgestellt vom Bürgermeister von Lisle, hat die formalen Voraussetzungen dafür geschaffen.

In Brides-les-Bains, einer Art jüdischen Exklave, finden die Nußbaums wie rund 400 andere jüdische Familien das ersehnte Refugium. Bis zum August 1943 geht alles gut, dann wird der italienische Diktator Benito Mussolini gestürzt, in der Folge verlassen die südeuropäischen Truppen Frankreich und die deutschen Truppen ersetzen diese. Sofort proklamieren sie alle Wohnmöglichkeiten für sich, sodass der mittlerweile 7-jährige Harry mit Vater, Mutter und Schwester nach Chandon im bergigen Hinterland fliehen muss. Hier wartet im Sommer 1944 eine letzte Belastungsprobe auf die vierköpfige Familie: Ein deutsches Regiment durchsucht die Bergregion auf der Suche nach Widerstandskämpfern und jüdischen Exilanten – und findet die Nußbaums. Mutter, Schwester und Harry selbst werden umzingelt und einer Identitätskontrolle unterzogen, die sie nur mit sehr viel Glück, nämlich mithilfe des Nachbarn Herrn Bienstock, der überaus gute gefälschte Papiere mit sich trägt, überstehen. Der Vater konnte sich derweil erfolgreich in einem Weizenfeld verstecken.

Im September 1944 erfolgt endlich die Befreiung Frankreich von der deutschen Besatzung durch US-amerikanische Truppen. In der Folge kehren die Nußbaums erst nach Brides-les-Bains, dann nach Périgueux, schließlich nach Paris zurück, wo sie das Ende des schrecklichen Zweiten Weltkriegs und des terroristischen Nazis-Regimes erleben.

Ein großes Dankeschön an Harry Nußbaum, der mit seinem Vortrag die Besucher*innen fesselte und sich auch danach Zeit für Rückfragen und das Signieren nahm, sowie natürlich die Pfullendorfer Organisator(inn)en!

Foto: Sandra Häusler (Südkurier)
Text: André Kiefer

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